Endlich Istanbul - und jetzt?
Mitte Juli kommen wir endlich in Istanbul an. Durch unsere Recherchen und Gespräche mit anderen Reisenden hatten wir ziemlich großen Respekt vor der Strecke von der türkisch-bulgarischen Grenze bis nach Istanbul. Von krassen Bergetappen, gefährlichen Autobahnen und Hundeangriffen wurde uns berichtet. Eins vorab: es ist definitiv keine einfache Route, aber lange nicht so dramatisch, wie wir befürchtet hatten. Zum Teil war es wirklich sehr fordernd, aber es gab auch einige schöne Überraschungen. Aber von Anfang an:
Wir hatten unsere Zeit an der bulgarischen Schwarzmeerküste wirklich genossen und mussten uns schon ein bisschen gegenseitig motivieren, schließlich das Meer zu verlassen und wieder landeinwärts und gleichzeitig in die Berge zu radeln. Wir planten fünf Tage für die knapp 300 Kilometer von Primorsko nach Istanbul ein. Schon am ersten Tag wurde es für uns schweißtreibend; 60 Kilometer bergauf, davon gut die Hälfte durch den Strandscha Nationalpark mit vielen Offroad Parts. Dann zog abends auch noch ein Gewitter mit heftigem Regen auf. Zum Glück haben wir noch last Minute die einzige Unterkunft in der Nähe ergattern können. Puh, Glück gehabt!!
Am zweiten Tag geht’s auch schon an die türkische Grenze. Aber erst einmal heißt es wieder: bergauf strampeln! Ungefähr zehn Kilometer schlängeln wir uns hoch und es ist überraschend wenig los auf der Straße. Wir müssen zwar dreimal unsere Pässe zeigen, aber der Grenzübertritt läuft doch recht schnell und problemlos ab. Wow! Wir sind in der Türkei! Wir sind tatsächlich von Berlin bis hierher geradelt – unglaublich!
Und auf einmal sind unsere müden Waden wieder voller Energie und wir rollen grinsend die Bundesstraße hinunter. Nach ein paar Kilometern biegen wir auf eine kleinere Landstraße ab und fahren bis ins nächste Dorf. Eigentlich wollen wir nur schnell Wasser kaufen, aber wir werden prompt auf einen Cay, den türkischen schwarzen Tee, eingeladen. Und auf einen zweiten. Und so geht das den Rest des Tages weiter. In jedem Dorf müssen wir anhalten und mindestens zwei Cay trinken. Und kein einziges Mal dürfen wir bezahlen.
Wir sind überwältigt von dieser Gastfreundschaft, die wir so auf der Reise noch nicht erlebt haben. Dann finden wir abends auch noch einen tollen Platz zum Wildcampen – was in der Türkei übrigens legal ist, noch ein Pluspunkt – was für ein genialer erster Tag in der Türkei!
Am nächsten Morgen geht‘s so weiter, wie es am Vortag aufgehört hat: malerische kleine, ruhige Straßen führen uns durch verschlafene Orte und es gibt natürlich wieder Cay, Cay, Cay… Es ist wohl auch Feiertag, denn überall wird Musik gespielt und getanzt. Wir radeln durch eine Gruppe tanzender und singender Männer in einem kleinen Dorf. So ein magischer Moment. Leider hat genau hier die Kamera versagt!!!
Kurz darauf ist es dann leider vorbei mit der Idylle, denn es geht auf die Bundesstraße. Dichter Verkehr und kein Seitenstreifen (an Radwege ist hier erst gar nicht zu denken) lassen die nächsten Kilometer zu einer echten Herausforderung werden. Wir kommen in der Stadt Saray an und entscheiden uns spontan, ein Hotelzimmer zu buchen, um ausgeruht in den nächsten Tag starten zu können.
Denn es warten wieder etliche Kilometer auf der Bundesstraße und mehrere Anstiege auf uns. Trotzdem fahren wir an diesem Tag 100 Kilometer. Unser bisheriger Rekord! Und nach der ganzen Anstrengung erwartet uns am späten Nachmittag mal wieder ein sehr lieber Gastgeber in einem typischen Café, der uns mit reichlich Getränken und Wasser für unseren Wassersack versorgt. Natürlich winkt er ab, als wir nach der Rechnung fragen. Dann findet Vince wieder mal einen perfekten Campingspot an einem Stausee und wir können es nicht so ganz fassen, dass Istanbul nur noch fünfzig Kilometer entfernt ist.
Das Finale wird nochmal knackig. Uns erwarten Steigungen mit 15 % (ja, nicht nur eine, leider) und der krasse Verkehr, den wir so gefürchtet haben. Wir haben jedoch eine Route gefunden, die uns zum Teil auch durch einen schattigen Waldabschnitt führt, sodass wir uns kurz von den an uns vorbei rasenden Autos, LKW und Bussen erholen können.
Nach zig Kilometern bergauf rollen wir nun Richtung Bosporus und schwuppdiwupp sind wir in Istanbul. War doch gar nicht so schlimm, oder? Jetzt gibt es erstmal zwei große Eiscafé und zur Feier des Tages noch eine kleine Tafel Schokolade dazu. Das nette Café hat sogar pflanzliche Milch und es gibt W-Lan, perfekt! Wir machen es uns im Schatten gemütlich und planen die Route zu unserem Warmshowers Host Murat, bei dem wir die ersten zwei Nächte in Istanbul verbringen möchten.
Es geht weiter am Wasser entlang und für ein paar Kilometer gibt es sogar einen Radweg! Dann müssen wir noch einmal stark sein; nochmal ein steiler Anstieg. Was? Da oben ist die Warmshowers Unterkunft? Das kann doch nicht sein. Da kommt man doch nicht mit Fahrrad hoch! Wir stehen ungläubig vor der Straße, in der angeblich Murat´s Wohnung sein soll. Wir müssen die Taschen abnehmen und müssen dennoch schieben. Oben angekommen, keine Spur von Murat und die Adresse ist nicht auffindbar.
Wir fragen uns durch, aber keiner kann uns helfen und wir sprechen kein Wort türkisch. Nach einer gefühlten Ewigkeit finden wir einen kleinen Supermarkt und zum Glück spricht einer der Kunden Englisch und hilft uns. Komoot, unsere Navigations-App, hatte uns zur falschen Adresse geschickt. Und wir sind den letzten Berg ganz umsonst hochgekrackselt!!! Also Taschen wieder auf die Räder, Räder wieder den Berg runter und rauf zu Murat. Ja, es geht nochmal bergauf, natürlich. Aber jetzt haben wir es wirklich geschafft!
Die Zeit in Istanbul vergeht wie im Flug und zwischen Sightseeing, Fahrrad-Checkup und anderem organisatorischen Kram hängt stets die eine große Frage über uns: wie geht unsere Reise weiter?
Der ursprüngliche Plan war, Richtung Süden an der türkischen Westküste entlang zu radeln und dann mit der Fähre über ein paar Inseln nach Griechenland zu reisen, um uns dann weiter Richtung Westen vorzuarbeiten und schließlich an unserem großen Endziel, den Kanarischen Inseln, anzukommen.
Die vergangenen Tage in der Türkei und die Begegnungen während unserer Reise ließen diesen Plan allerdings ins Wackeln kommen. Alle schwärmten von der atemberaubenden Natur Georgiens, der überwältigenden Gastfreundschaft der Iraner und überhaupt: wir waren am Tor zum Orient angekommen. Machte es überhaupt Sinn, jetzt direkt wieder „zurück“ in die EU zu fahren? Und wenn uns die Türkei doch so gut gefällt, sollten wir nicht weiter ins Land hineinfahren, um noch mehr von dieser interessanten Kultur und diesen herzlichen Menschen zu entdecken?
Fragen über Fragen und obwohl wir eine gute Woche in der Metropole verbringen, kommen wir zu keinem Entschluss. So sitzen wir am 19.07.2023 auf der Fähre aus Istanbul heraus und wissen nicht, wohin wir am nächsten Tag radeln werden…