Armenien - die schöne Unbekannte
Also irgendwie hatten wir von jedem Land bestimmte Vorstellungen oder auch Erwartungen; Bären und Dracula in Rumänien, lange, goldene Sandstrände in Bulgarien, der gute georgische Wein, und so weiter. Bei Armenien fiel mir so gar nichts ein. Nicht mal über die Hauptstadt Jerewan wusste ich auch nur das Geringste. Es war ein komisches Gefühl, aber gleichzeitig auch toll, mal so völlig unvoreingenommen in ein neues Land zu starten.
Am 23.09.2023 war es dann soweit. Nach eineinhalb Monaten in Georgien überquerten wir die Grenze in das uns unbekannte Armenien, übrigens Land Nummer zehn auf unserer Radreise. Der Übergang war mehr als smooth, es dauerte gerade mal 15 Minuten und wir wurden gleich mit einem „Welcome to Armenia“ begrüßt. Der Start war schon einmal vielversprechend. Auch Geld abheben, Simkarte besorgen und kleine Einkäufe erledigen war kein Problem; die Armenier waren alle sehr hilfsbereit und wir fühlten uns direkt willkommen. Anders als in Georgien, begegneten uns hier gleich auf den ersten paar Kilometern viele lächelnde Gesichter und wir bekamen am Straßenrand Obst geschenkt. So kann es gern weitergehen!
Leider spielte das Wetter am Anfang nicht so wirklich mit und wir mussten uns am ersten Tag ein Hotelzimmer nehmen. Da fiel uns sofort ein weiterer Unterschied zu Georgien auf: die Unterkünfte sind in Armenien viel teurer. Hoffentlich wird das Wetter bald besser und wir können wieder campen.
Das Wetter blieb die nächsten Tage noch durchwachsen, aber wir verliebten uns immer mehr in das Land und vor allem die Landschaften. Wir fuhren durch Canyons, genossen Ausblicke in die beeindruckenden Berglandschaften und erkundeten Jahrhundertealte Kirchen und Klöster.
Wettermäßig wurde es langsam besser, als wir von der Stadt Wanadsor in den Erholungsort Dilijan fuhren. Und auch landschaftlich war das eine der schönsten Strecken in Armenien. Die Straße war, wie meistens hier in Armenien, recht wenig befahren und so konnten wir die Natur um uns herum in vollen Zügen genießen. Die Blätter färbten sich langsam rötlich und es kam eine wunderbar herbstliche Stimmung auf. Dilijan selbst ist überraschend international, wir hörten viel Englisch und sogar Deutsch, als wir uns in einem Café einen Cappuccino mit Sojamilch gönnten. Es gibt im Ort eine große Auswahl an Cafés und Restaurants und erstaunlich viele vegane Optionen. Damit hatten wir hier gar nicht gerechnet!
Am nächsten Tag ging es weiter an den Sewansee, ein Bergsee, der sich auf ca. 2.000 Metern über dem Meeresspiegel befindet. Auch hier gab es während des Aufstiegs immer wieder herrliche Aussichten in die herbstlichen Wälder. Am See angekommen, fanden wir einen tollen Platz zum Campen auf einer Halbinsel. Es stellte sich später heraus, dass der Spot doch nicht so ideal war. Es handelte sich um die betonierte Terrasse eines verlassenen Restaurants direkt am See. Gegen Abend zog ein so heftiger Wind auf, dass wir Mühe hatten, unser Zelt an Ort und Stelle zu behalten. Geschlafen haben wir in dieser Nacht nicht sonderlich gut, aber wir haben es überstanden.
Tags darauf stand eine spaßige Etappe an: von 2.000 Metern über dem Meeresspiegel runter auf ca. 1.000 Meter. Also den ganzen Tag mehr oder weniger bergab rollen und das auf einer Strecke von ca. 90 Kilometern. Unser Tagesziel: die armenische Hauptstadt Jerewan. Und auch diese Tour war wieder mal beeindruckend. Wir wählten die etwas längere Variante über eine Nebenstraße, sodass wir nicht den ganzen Tag auf dem Highway fahren müssen. Und der kleine Umweg hat sich gelohnt! Tolle Bergkulissen, Kirchen, die auf Hügeln mitten im Nirgendwo thronen und zerklüftete Schluchten zogen an uns vorbei.
Irgendwann mussten wir aber die spektakulären Panoramen hinter uns lassen und auf die Hauptstraße fahren, um in die Stadt zu gelangen. Und was sollen wir sagen? Es war einer der schlimmsten Streckenabschnitte bis dahin. Es war unübersichtlich, voll und die Leute nahmen keinerlei Rücksicht auf uns als Fahrradfahrer. Wir waren heilfroh, als wir endlich in unserer Unterkunft angekommen waren. Zum Glück lag diese in einer kleinen Seitenstraße weitab vom Trubel und dem tosenden Verkehr. Nun galt es, die Hauptstadt Armeniens zu erkunden und ein paar organisatorische Dinge standen auch auf unserer Liste, aber allem voran: unsere Iran-Visa von der Botschaft abholen.
Aber erst einmal Sightseeing. Da wir, wie bereits erwähnt, so gut wie nichts über diese Stadt wussten, schauten wir auf Google, was man sich denn so anschauen muss. Da war als erstes die Cascade, ein imposantes Bauwerk bestehend aus vielen Treppen und von dessen oberster Aussichtsplattform man einen tollen Blick auf den mysteriösen Berg Ararat haben soll. Also nichts wie rauf da! Den Blick auf den Ararat gibt es heute nicht, da zu bewölkt, aber wir haben ja noch ein paar Tage Zeit.
Die Anzahl an Sehenswürdigkeiten hält sich in Grenzen, aber trotzdem hat uns diese Stadt total verzaubert. Es hat ein paar Tage gedauert, doch mit der Zeit nahmen wir immer mehr die entspannte Atmosphäre wahr. Die gut besuchten Terrassen der Cafés, Kunst wohin man schaut, ein toller Obstmarkt und eine sehr abwechslungsreiche Foodszene. Seit Istanbul hatten wir nicht mehr so eine Auswahl an internationalen Restaurants; wir waren indisch, vietnamesisch, italienisch und natürlich auch armenisch essen. Auch Cafés und Bars haben wir einige ausprobiert und waren positiv überrascht. Mehr zu diesem Thema findest du hier.
So schlenderten wir durch die Stadt und entdeckten nette Innenhöfe, kleine Parks und am zweiten oder dritten Tag auch endlich den Blick auf Mount Ararat. Zwar nicht von der Cascade aus, sondern direkt vor der Tür unserer Unterkunft. Die Wohnung befindet sich nämlich in einem höher gelegenen Teil der Stadt und bietet eine wahnsinnig tolle Sicht auf die Berge in der Ferne.
Für das perfekte Jerewan-Motiv mussten wir dann aber trotzdem nochmal hoch auf den Gebäudekomplex der Cascade, um ein paar Schnappschüsse zu machen. Das Wetter war hier „unten“ auch Ende September noch sommerlich warm mit ca. 30 Grad, sodass wir viel Zeit draußen verbringen konnten. Mit dem Visum für den Iran hat auch alles ziemlich gut geklappt und wir konnten nun die weitere Route Richtung Süden planen. In weniger als zwei Wochen wollten wir im Iran ankommen. Was uns aber in den kommenden Wochen in Armenien noch alles erwartete, konnten wir zu diesem Zeitpunkt nicht ahnen…
Nach einer wunderbaren Woche in der Hauptstadt freuten wir uns wieder auf mehr Natur und steuerten unser nächstes Ziel an: Khor Virap. Hier sollten wir nun definitiv unsere Dosis Ararat-Blick bekommen. Das Kloster ist das Highlight jeder Armenienreise. Es war mittlerweile Anfang Oktober und es waren nicht mehr allzu viele Touristen da. Der Himmel war klar und somit konnten wir den wirklich spektakulären Anblick genießen und ein paar tolle Erinnerungsfotos machen.
Da das Wetter gut war, entschieden wir uns in der Nähe zu campen und da wie gesagt nicht zu viel los war, war ein ruhiges Plätzchen auch schnell gefunden – mit Ararat-Blick. Als wir am nächsten Morgen aus dem Zelt gekrochen kamen, zeigte sich der Gigant noch einmal in seiner vollen Pracht. Von der Morgensonne angestrahlt, war der Anblick jetzt noch beeindruckender. Wir nutzten die frühen Morgenstunden, um vor den ganzen Tagesbesuchern das Kloster zu besichtigen, bevor es wieder auf die Räder ging.
Und es ging gleich weiter mit den spektakulären Campingspots. Wir fuhren stetig bergauf, den Ararat nun im Rücken, und es ging hinein in die armenische Bergwelt. Mal wieder gab es unglaublich schöne Aussichten, aber die Höhenmeter zehrten auch ganz schön an unseren Kräften. Als ich am Nachmittag vor Erschöpfung kaum noch konnte, fingen wir an, nach einem passenden Platz zum Zelten Ausschau zu halten.
Auf einer kleinen Anhöhe links von uns, etwas abseits der Straße, entdeckten wir ein unfertiges Haus und daneben eine kleine Holzhütte. Es sah so aus, als würde unser Zelt genau hinein passen. Und so war es auch. Wir hatten den perfekten Platz für die Nacht gefunden. Von unserem Lager aus hatten wir einen wunderschönen Blick in die Berge und konnten noch den Sonnenuntergang beobachten, bevor wir todmüde in die Matratzen fielen.
Die kommenden Tage spielte das Wetter leider nicht mehr mit – auch in Armenien war nun der Herbst angekommen. Vor allem in den höheren Lagen wurde es schon frostig kalt und in den Tälern regnete es viel. Darum verbrachten wir die darauffolgenden Nächte in Gasthäusern und Hotels.
Die Landschaft war unverändert: schön, bergig, ganz schön bergig! Es war wirklich ein Kraftakt, durch dieses kleine Land zu radeln. Fast täglich ging es auf über 2.000 M.ü.M. hoch und über 1.000 Höhenmeter am Tag waren keine Seltenheit. Dafür wurden wir immer wieder mit tollen Ausblicken belohnt. Das Schöne am Radfahren in den Bergen ist, dass sich mit jeder Kurve die Perspektive ändert und es so nie langweilig wird. Je weiter wir uns von der Hauptstadt entfernten, desto karger wurde es. Weniger Verkehr, weniger Menschen, weniger Einkaufsmöglichkeiten. Sollte das schon ein kleiner Vorgeschmack auf den Iran sein?
Das Wetter verschlechterte sich weiter und unsere Etappe ins Bergdorf Tatev wurde zum Alptraum. Der Nebel, der uns schon seit dem Morgen begleitete, wurde immer dichter, bis wir irgendwann kaum noch etwas sehen konnten. Die Autos fuhren zum Teil trotzdem ohne Licht, sodass es für uns wirklich gefährlich wurde. Dazu kam die Kälte. Fünf Grad waren es gerade einmal. Das klingt jetzt nicht so dramatisch, aber wir waren absolut nicht darauf vorbereitet, vor ein paar Tagen liefen wir noch in Shorts und T-Shirt herum. Also zogen wir uns all unsere Schichten über, Handschuhe an und fuhren ganz langsam, bis endlich eine Raststätte aus dem Grau auftauchte, wo wir uns aufwärmen konnten.
Als der Nebel sich langsam lichtete, setzten wir unsere Fahrt fort Richtung Tatev. Die letzten zehn abenteuerlichen Kilometer voller Serpentinen und Schlaglöcher sparten wir uns und gönnten uns eine Fahrt mit der weltweit längsten zweigleisigen Seilbahn „Wings of Tatev“. Diese spuckte uns direkt am Kloster von Tatev aus und fünf Minuten später waren wir auch schon in unserer Unterkunft. Im süßen Gasthaus wurden wir von Gayane und ihrer Mutter mit Kaffee und Kuchen empfangen – genau das Richtige nach einem so anstrengenden Tag.
Wir verbrachten zwei wunderschöne Tage in den Bergen, machten eine Wanderung zu einem alten verlassenen Kloster und hatten interessante Gespräche mit unseren zwei Gastgeberinnen. Am zweiten Tag trafen wir noch Suse und Micha von „Freitreten“ und verbrachten einen feucht-fröhlichen Abend mit den beiden Wahlberlinern. Bei Granatapfelwein und Maulbeerwodka tauschten wir uns über unsere Radreiseabenteuer aus. Ein unvergesslicher Moment!
Jetzt blieben uns nur noch ein paar Tage und ein 2.500 Meter hoher Pass bis in den Iran. Aber manchmal kommt doch alles anders, als man denkt…